Montag, 17. Oktober 2011

Slavoj Zizek, Ideologische "Vermenschlichung"

"Unser inneres Erleben, die Geschichte, die wir über uns selbst erzählen, um unser Handeln zu erklären, ist eine Lüge unseres Geistes - die Wahrheit liegt außerhalb, in dem was wir tun. ... 
Diesselbe Strategie der ideologischen "Vermenschlichung" ... ist auch eine Schlüsselkomponente der ideologischen (Selbst-)Darstellung der israelischen Streitkräfte. Die israelischen Medien gehen gerne ausführlich auf die Unvollkommenheiten und psychischen PÜrobleme deer israelischen Soldaten ein und stellen sie weder als perfekte Kampfmaschinen noch als übermenschliche Helden, sondern als ganz normale Menschen dar, die, gefangen in den Traumata der Geschichte und des Krieges, Fehler begehen können und die Orientierung verlieren können, wie jeder andere auch. Als etwa die israelische Armee im Januar 2003 das Haus der Familie eine mutmaßlichen "Terroristen" zerstörte, ging sie mit betonter Liebenswürdigkeit vor und half der Familie sogar noch, ihre Möbel aus dem Haus zu schaffen, bevor sie es mit dem Bulldozer planierte. Kurz zuvor hatte die israelische Presse über einen ähnlichen Vorfall berichtet: Als ein israelischer Soldat ein palästinensisches Haus nach Verdächtigen durchsuchte, rief die Mutter ihre Tochter bei Namen, um sie zu beruhigen, und der verdutzte Soldat musste feststellen, dass das verschreckte Mädchen genauso hieß wie seine eigene Tochter; in einem Anfall von Sentimentalität zückte er seine Brieftasche und zeigte ihr Bild der palästinensischen Mutter. Die Falschheit einer solchen Empathiegeste ist leicht zu erkennen: die Vorstellung, dass wir trotz aller politischen Differenzen doch Menschen mit denselben Vorlieben und Sorgen sind, neutralisiert die Wirkung dessen, was der Soldat tatsächlich gerade tut. Die einzig richte Antwort der Mutter müsste also lauten: "Wenn Sie wirklich ein Mensch sind wie ich, warum tun Sie dann, was Sie gerade tun?" Der Soldat kann sich dann nur noch auf seine verdinglichte Pflicht berufen: "Es gefällt mir nicht, aber es ist meine Pflicht ..." und so der subjektiven Annahme seiner Pflicht entgehen. Vermenschlichungen dieser Art sollen die Kluft verdeutlichen, die zwischen der komplexen Realität der Person und der Rolle, die sie entgegen ihrer wahren Natur spielen muss, herrscht. "In meiner Familie liegt das Militärische nicht in den Genen", sagt einer der interviewten Soldaten, der zu seiner eigenen Überraschung Karrieresoldat geworden ist, in Claude Lanzmanns Film Tsahal. ...
Eine Schlüsselszene gegen Ende des Films, in der Lanzmann mit einem israelischen Bauunternehmer diskutiert, beschreibt Maslin so:
"Wenn die Araber wissen, dass es hier bis in alle Ewigkeit Juden geben wird, werden sie lernen, damit zu leben", behauptet dieser Mann, dessen neue Häuser auf besetztem Gebiet gebaut werden. Hinter ihm arbeiten eifrig arabische Handwerker, während er redet. Als er mit den heiklen Fragen konfrontiert wird, die der Siedlungsbau aufwirft, verstrickt sich der Mann in Widersprüche und schaltet auf stur. "Dies ist das Land Israel", beharrt er immer dann, wenn Mr. Lanzmann, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Verhältnis des israelischen Volkes zu seinem Land zu erforschen, eine der Fragen stellt, auf die es keine Antwort gibt. Schließlich gibt der Regisseur die Diskussion auf, lächelt philosophisch und umarmt den Bauunternehmer. In diesem Moment bringt er all die Wehmut und die Frustration, die in Tsahal zu sehen sind, zum Ausdruck, und er schafft dies in einer einzigen Geste." (Janet Maslin, "Tsahal; Lanzmann´s Meditation On Israel´s Defense", in: New York Times, 27. Januar 1995)
Würde Lanzmann auch den arabischen Handwerker im Hintergrund philosophisch anlächeln und umarmen, wenn dieser im Interview in wütende Raserei gegen die Israelis ausbrechen würde, die ihn zu einem bezahlten Instrument des Raubes an seinem eigene Land degradieren? Darin liegt die ideologische Ambiguität von Tsahal: Die interviewten Soldaten spielen die Rolle ihres "normalen menschlichen Selbst" sie inszenieren die Maske, die sie zur Vermenschlichung ihrer Taten geschaffen haben. Diese ideologische Mystifikation (bei der die ideologische Maske als "normales menschliches Inneres" präsentiert wird) erreicht ihren unübertroffenen ironischen Höhepunkt mit dem Auftritt von Ariel Sharon als friedlicher Bauer."

Auszug aus: Slavoj Zizek, Die bösen Geister des himmlischen Bereichs Der linke Kampf um das 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2011, S. 244 ff, Leseempfehlung)

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