Mittwoch, 6. April 2011

Deutsche "Panik" II

Deutsche "Panik", Teil I  Ich nehme hier den Faden nochmals auf und versuche, die Überlegungen, die über das Sujet und den Kontext dieses Blogs hinausgehen, zu vertiefen.

"Deutschland schafft sich ab" - das kann man so entspannt sehen wie der "Beute-Deutsche" oder "neue Deutsche" Henryk M. Broder

"Deutschland schafft sich ab” . Wissen Sie, das sagt erst mal gar nichts, das kann gut sein oder das kann schlecht sein. ... Ich finde es grundsätzlich [sic!] gut, dass das so genannte «weisse, heterosexuelle, blonde, arische» Europa seinem Ende entgegengeht ... Ich würde gerne das weisse Europa aufgeben, aber ich würde ungern das demokratische Europa aufgeben. ... Wir Beute-Deutsche sind die neuen Deutschen. Das heißt nicht, Deutscher zweiter Klasse zu sein. Ganz im Gegenteil.  Sie kommen in Deutschland heute ja nicht weit ohne Migrationshintergrund. Wenn Sie sagen, Sie sind ein gewöhnlicher Deutscher aus dem Sauerland und essen gerne Königsberger Klopse - mit dieser Biographie können Sie doch nichts werden. ...Für die autochthonen Deutschen ist das Deutschsein mit Leiden und Schwermut verbunden, mit diesem ganzen schweren Gepäck im [sic!] Rücken. Ich habe das alles nicht. Ich reise mit leichtem Gepäck. ... Wenn du dich scheisse benimmst und keiner nimmt es dir übel, dann bist du integriert."

Hier spricht ohne Zweifel einer, der mit Fleisch und Blut überzeugt ist, ein Sieger der Geschichte zu sein.  Bei weitem nicht mehr auf der Höhe der Zeit,  müßte der "gewöhnliche", der "autochtone" Deutsche mit seinen Königsberger Klopsen und Leiden und Schwermut sein schweres Gepäck abwerfen, so er denn kann, oder denen das Feld überlassen, die mit leichtem Gepäck weit kommen und sich scheisse benehmen. Ob das Thilo Sarrazin oder Geert Wilders, mit denen zusammen der Meister gegen die grüne Flut kämpft, auch so sehen? Ist das eine Alliance oder Mesalliance? Kennen Wilders oder Sarrazin, Prototypen des weissen, blonden, protestantischen, arischen Europas der Nationen oder Vaterländer,  oder  die Bataillione und Sturmgeschütze des "Freien Westens" gegen die Islamisierung Europas von Politically Incorrect  ihren Pappenheimer und Lautsprecher Henryk M. Broder? Kämpfen diese blonden Bestien für ein ethnisch entsorgtes "demokratisches Europa" der, sagen wir, "neuen Europäer"?  Ich fürchte, ich muss Broder enttäuschen: Sarrazin macht sich wirklich Sorgen, dass "Deutschland" sich abschafft, und Wilders, Strache, Politically Incorrect & Co. begeistern sich für Israel nicht nur deswegen, weil es die "einzige Demokratie im Nahen Osten" ist, sondern vor allem wegen des prononcierten und vorbildlichen völkischen Verständnisses des jüdischen Staates, der sich gegen seine heteroethnische Umgebung einmauert bzw. zur Wehr setzt. Ebenso wie Israel werden ihnen die Muselmanen nur noch verdächtiger, wenn sie sich von Tyrannei befreien und Demokraten werden wollen. "Jeder Mensch - und  jede Nation - hat das heilige Recht, im Namen ihrer Zukunft und im Namen ihrer Vergangenheit ihre Differenzen und ihre Identität zu bewahren." (Jean Raspail). Wäre es nicht wahrlich ungerecht, wenn diese Maxime nur für den  geschichtlichen Ausnahmestaat Israel und das Volk Israel (Am Yisrael Chai) gelten würde?

Gibt es noch ein kleines gallisches Dorf, das dem nahezu "alternativlosen" Prozess der Geschichte in der Form des Broderschen Narrativs widersteht? Als Sprecher für eine Sichtweise der "autochthonen Deutschen" und der anderen Vaterländer Europas will ich Martin Lichtmesz nehmen.  Martin Lichtmesz, Vordenker der aufrechten Deutschen in Sezession im Netz, dessen klare Aussagen und dessen vorzüglichen Stil ich sehr schätze (Das Manifest der Vielen oder Patrick-Bahners-Typus, Der Naika-Foroutan-Typus, Jean Raspail und das "Heerlager der Heiligen", Der Traum einer Reconquista (Gesammelte Raspailiana) schreibt - ich denke, dass sein Unbehagen  besser auf die triumphale Verachtung Broders passt als auf die Reaktionen auf Sarrazins schneidenden, entwertenden und kränkenden Diskurs im "Manifest der Vielen" -

"Das „Manifest der Vielen“ demonstriert unterm Strich „beredt“ ... vor allem eines: die völlige Gleichgültigkeit der Intellektuellen unter den Zugewanderten gegenüber den Rechten, Gefühlen, Ängsten und Problemen jener Autochthonen, die irgendwie noch in der altmodischen Idee befangen sind, als Volk ein Vorrecht in ihrem eigenen Land zu haben. Es wird wie selbstverständlich angenommen, daß dieses Vorrecht gar nicht existiert, ja es wird sogar mit gelehrten Traktaten die Identität der Deutschen selbst geleugnet, dekonstruiert und relativiert." (Quelle)

Ich muss gestehen, dass ich noch keinen wirklich überzeugenden Identitätsdiskurs gefunden (bzw. gefunden, aber nicht "wahrgenommen", z.B. die Berufung auf Blut und Boden, auf ein natürliches Vorrecht) habe. Der bildungsbürgerliche Bezug von Sarrazins "Wanderers Nachtlied", meiner Sorge um den Fortbestand von Bachchören oder von Matthias Matusseks Goethe-Fimmel ist - mit Verlaub - nach Nietzsches Terminologie in "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" antiquarisch, denkmalpflegerisch,  nicht kritisch "der Zukunft zugewandt". Könnte es einen Kanon für das "Deutsche" geben, sofern man Immigranten einladen oder abhalten will, Deutsche zu werden? Was gehört dazu neben dem Minimum der Sprache? Mythen, Märchen, Helden und Heilige, Volkslieder, Poesie? Traditionen, die fast schon in einer universalen Popkultur (Bohlen, Katzenberger & Co) untergegangen sind? Die verantwortliche Übernahme der deutschen Geschichte? Die Beiträge von Deutschen zur Weltkultur und zum wissenschaftlichen Weltbild? Eine gastrosophische Kultur, zu der Wein und Hopfen und Malz sowie Spirituosen gehören? Gehört zu uns das "christliche Abendland"  oder gar die zuletzt beschworene "jüdisch-christliche Kulturerbe"? Gibt es ein kollektives Identitätsmuster, das für und in die Zukunft in einem Konzert der Nationen zu retten sei, für das sich ein Einsatz lohnt? - Nichts schwieriger als ein Identitätsdiskurs; ich gebe dem ein Pferd, der das Königreich einer guten Definition bietet.

"Jeder Mensch - und  jede Nation - hat das heilige Recht, im Namen ihrer Zukunft und im Namen ihrer Vergangenheit ihre Differenzen und ihre Identität zu bewahren." (Jean Raspail).  Die Maxime ist auch vor dem Hintergrund des Werdens und Vergehens ("denn alles, was entsteht,/Ist wert, dass es zugrunde geht") ansprechend. Wie auch immer man die Differenzen, mit denen wir uns von anderen unterscheiden, die unser Eigenes ausmachen, definiert - um sie zu bewahren, muss man sie weiter geben wollen und müssen sie übernommen und wieder zu Eigen gemacht werden. Sonst sinken sie mit uns ins Grab. An dieser Stelle habe ich auf diesem Blog immer wieder ein Ceterum Censeo eingeworfen, z.B. in dieser bissigen und unbarmherzigen Brandrede:

Mit dem Schlachtenlärm vom Untergang des Abendlandes durch den Ansturm der Muslime wollen sie  von ihrer "tödlichen Sünde" oder ihrem defätistischen "Amor fati"  ablenken, ihrem Autogenozid, den Broder mit satter und grundsätzlicher Zufriedenheit kommentiert.  Na ja, die Angst vor dem Tod lässt sich nicht verdrängen, lediglich verschieben, gerade von den Angstbeissern nicht, die das Leben scheuen und dem Risiko und dem harten Glück einer Elternschaft aus dem Weg gehen, kein (Zwischen-)Glied mehr in einer Kette von Generationen sein wollen, sondern Endmoränen sind - und sich nicht mehr um ihre Kinder, sondern nur um sich selbst Sorgen machen müssen. Die dämmern im Halbschlaf in ihrer Matrix, es zuckt noch, wenn von aggressiv fertilen Muselmanen geträumt wird. Letzte Lebenszeichen, nach mir die Sintflut.

Ich will nicht alle, denen der Schrecken in die Glieder gefahren ist,  in einen Sack stecken, aber ist es denn nicht defätistisch, bereits das Eingeständnis der besiegelten Niederlage ("Lasst ... alle Hoffnung fahren" Dante, Inferno), wenn man sich wie Lichtmesz und andere edle und schöngeistige Rechte auf den französischen Schriftsteller Jean Raspail und seinen "visionären" Roman "Heerlager der Heiligen" von 1973 beruft? Jean Raspail ist überzeugt, dass das Schicksal Frankreichs (bzw. der "Franzosen des Stammes") und Europas (der Vaterländer)  bereits besiegelt sei. Nach Raspail entspricht der Bedrohung von außen, den Elenden "aus allen unerschöpflichen Winkeln der Dritten Welt", die ante portas Europa stehen, deren Vorläufer jetzt auf Lampedusa landen, eine fatale endogene Erkrankung und Immunschwäche, nämlich:  "republikanische Werte" und ein säkularisiertes Christentum

"Im „Heerlager“ ist ein säkularisiertes Christentum bis hinauf zum Papst zu einem der Hauptschuldigen an der inneren Zermürbung und Aufweichung des Abendlandes geworden. Reduziert auf eine übersteigerte humanistische Ethik, propagiert es einen extremen Altruismus und Egalitarismus, der am Ende von kriecherischer Feigheit und geistiger Selbstkastration kaum mehr zu unterscheiden ist. ... Raspails Kritik an der hypertrophen, das Religiös-Sakrale nivellierenden Ethik des modernen Christentums (Arnold Gehlen würde von „Hypermoral“ und „Humanitarismus“ sprechen) hat dabei ironischerweise auffällige Parallelen zu Nietzsches klassischer Polemik „Der Antichrist“, die das „Mitleiden“ mit den „Schwachen und Mißratenen“ zum lebensfeindlichen, „nihilistischen“ Affekt schlechthin erklärte." (Quelle)

"Nicht allein Frankreich ist davon betroffen. Ganz Europa marschiert in seinen Tod. ...  Jedesmal, wenn in meiner Familie oder im Freundeskreis eine Geburt stattfindet, kann ich dieses Kind nicht ansehen, ohne an das Schicksal zu denken, das sich über ihm dank der Fahrlässigkeit unserer „Regierungen“ zusammenbraut, und dem es sich stellen muß, wenn es das Erwachsenenalter erreicht haben wird.
Durch die Mißachtung der gebürtigen Franzosen, die betäubt werden vom hämmernden Tam-Tam der Menschenrechte, durch die „Offenheit für den Anderen“, das „Teilen“, das unseren Bischöfen so am Herzen liegt, etc.; in die Ecke gedrängt durch das ganze repressive Arsenal der sogenannten „antirassistischen“ Gesetze, durch die Konditionierung bereits der Kleinsten zur kulturellen und gesellschaftlichen „Buntheit“ und Vermischung, durch die Zumutungen eines „pluralistischen Frankreich“ und all die Herabgekommenheiten der alten christlichen Barmherzigkeit, werden wir bald keine andere Möglichkeit mehr haben, als unsere Ansprüche herunterzuschrauben und uns ohne Murren in der Gußform dieses neuen französischen „Bürgers“ des Jahres 2050 einschmelzen zu lassen." (Quelle)

Der Traum einer reconquista scheint mir nur noch das Pfeifen im dunklen Wald oder Keller zu sein. Muß man dem nicht einen Stoß geben, was derartig taumelt?  Man (der gebürtige Franzose, Deutsche, Niederländer etc.)  fühlt sich bedroht, mißachtet, in die Ecke getrieben. Ich will nicht ausschließen, dass diese verängstigten Identitätsdiskurse mitverantwortlich für das Schwächeln des "Egoismus der Gene" (Kann man in diese Welt noch Kinder hineinsetzen? Muß man die Kinder nicht bedauern? Ist Geborenwerden nicht das größte aller Übel?) sind, glaube jedoch, dass ein wesentlicher Faktor die Unterscheidung in flüssige und überflüssige Menschen und die totalisierende Inanspruchnahme der flüssigen "Elementarteilchen" durch die Ökonomie eines sich verabsolutierenden Kapitalverwertungsprozess sind; Gunnar Heinsohn hat ausgeführt (in: Söhne und Weltmacht, München, 2008, S. 46)

"Das gegenwärtige Paradox von den reichsten Territorien der Erde, die nicht imstande sind, sich aus eigener Fortpflanzung zu reproduzieren, löst sich also darin auf, dass Erwerbsquoten von Männern und Frauen von über 80 Prozent zwar den Reichtum steigern, aber die Verausgabung gerade der konkurrenztüchtigsten Lebensjahre für Vermehrung und Erziehung so gut wie unmöglich machen. ...
Dieses enge Fenster einer biologisch und sozial auf zehn Jahre reduzierten Vermehrungszeit ist identisch mit dem Zeitraum , in dem die jungen Männer und ihre Partnerinnen in der Konkurrenz nach oben kommen müssen oder eben Verlierer werden. Selbst diejenigen, die Vaterschaftswünsche haben, müssen - mitten im härtesten Konkurrenzkampf ihres Lebens stehend - das Ansinnen zurückweisen oder können ihm nur widerwillig nachkommen."

Für diese so in Anspruch genommenen Elementarteilchen verengt sich der Erwartungshorizont auf die Aufrechterhaltung ihrer Fitness in diesem Verwertungsprozess.

"Die Gegenwart steht in voller Blöße da, sofern das Gewicht der Vergangenheit, das in den traditionellen Gesellschaften als stabilisierender Ballast diente, an Kraft verloren hat und der Elan in Richtung Zukunft schwach geworden ist. ... Man denkt also immer weniger an die Zukunft und an die kommenden Generationen. ... In den traditionellen Gesellschaften religiöser Prägung projezierte das Individuum seine Existenz in der Regel über den Tod hinaus, in die Tiefe der Ewigkeit. Später strebte es mehr nach den auf lange Zeiten ausgerichteten kollektiven Projekten zur Realisierung einer besseren Welt. Heute stellt die bemerkenswerte Abnahme des zeitlichen Horizonts das makroskopisch gesehen bedeutendste Element dar, welches zugleich hinsichtlich des gesellschaftlichen Verhaltens eines der am wenigsten erforschten ist." (Remo Bodei, Die Zukunft eröffnen, Lettre International 91, S. 11)

Ich persönlich neige eher zum Schwarzsehen einer Dystopie. Ich will jedoch angesichts einer nicht restlos determinierten und vorhersehbaren Zukunft nicht versäumen, einer anderen Perspektive Raum geben, die m.E. das Zeug hat, über den verängstigten Diskurs eines Raspail/Lichtmesz und den überheblichen kränkenden Diskurs eines Broder hinauszuweisen.  Es handelt sich um das Essay Europa wird mestizisch - Globale Wanderungsbewegungen und die Verteidigung des Säkularismus von Sami Nair in Lettre International 91, S. 15 - 20. Ich empfehle wärmstens diese programmatische Schrift, deren Anfang von Lettre International auch im Internet präsentiert wird. Ich will hier noch weitere Auszüge  präsentieren, die mir in diesem Zusammenhang relevant erscheinen; ich meine jedoch vorab - ceterum censeo -, dass Nairs Programm m.E. eine selbstbewusste Mehrheitsbevölkerung voraussetzt, die hinsichtlich ihres "Egoismus der Gene" nicht schwächelt; weil ihre Farbe kräftig genug ist, kommt sie mit Einwanderung besser zurecht, kann die United Colours besser integrieren und assimilieren.  Andernfalls wird sie sich immer bedroht und überwältigt fühlen. Sami Nairs Überlegungen, sicher nicht der Weisheit letzter Schluß, aber ein guter Denkanstoß, der vielleicht die Don-Quichotterien vergeblicher Rückzugsgefechte vermeiden hilft. Man kann an ihnen entlang denken und das Mögliche erkunden:

"Während es absolut unannehmbar ist, Europas Multiethnizität abzustreiten ... wird es andererseits notwendig, den Sockel der gemeinsamen kulturellen und konfessionellen Werte zu definieren, auf den das Kollektiv der Europäer bauen kann. Jede europäische Nation muß hier ihren Weg finden und dabei ihre Geschichte und ihre Aufnahme- und Annahmefähigkeit berücksichtigen. Aber die kulturellen Grundzüge der europäischen Zivilisation sind allgemein festgelegt: Werte der demokratischen Staatsbürgerschaft, die dem modernen Prinzip der Gleichheit an Rechten und Pflichten sowie der Gleichstellung der Geschlechter unterworfen sind; und eine relative Autonomie der konfessionellen Werte im Verhältnis zur zeitlichen Ordnung, das heißt eine Säkularisierung der Existenzbedingungen.


... Seit sie gezwungen sind, mit neuen Bevölkerungsgruppen zu leben, haben sie sich entschieden, sie der nationalen Kultur des Aufnahmelandes zu assimilieren - selbst ein Land wie Holland mit einer so ausgeprägten Tradition von Differenz und Toleranz schlägt nunmehr diese Richtung ein ...die assimilatorische Linie wird von nun an in Europa vorherrschend sein. 


Mit gutem Grund: Migrationen sind nicht temporär, sondernb tendieren durch den Mechanismus der ... Familienzusammenführung dazu, sich in Bevölkerungsmigrationen zu verwandeln. Sich in Kultur, Sprache und Weltsicht des Aufnahmelandes einzufügen wird daher zu einer conditio sine qua non des Erfolgs des Migrationsprojektes. ... Europa hat sich somit de facto für Bevölkerungszuwanderung sowie für kulturelle und rechtliche Assimilation der Zuwanderer entschieden. Dies ist die einzig mögliche Entscheidung, wenn man die demographische Alterung in Europa, die Zwänge der ökonomischen Globalisierung und den identitären Widerstand der aufnehmenden Gesellschaften berücksichtigen will. 


Was die Identität der europäischen Gesellschaften auf eine harte Prüfung stellt, ist, jenseits der normativen Werte, auch eine Frage von Sitten und konfessionellen Werten, in die normative Werte oft eingebettet sind. Der Islam ist hierbei gleichermaßen eine Herausforderung für die europäischen Gesellschaften wie auch für sich selbst. Für erstere stellt sich die historische Frage der Erweiterung der Sphäre des Säkularen ausgehend von der Ausdehnung der europäischen Bürgerrechte auf den Islam.  Diese Religion hat wie andere das Recht, sich zu entfalten und zu existieren, um seinen Gläubigen eine Stütze zu sein. ...


Umgekehrt muß sich der Islam seinerseits an die kulturellen und normativen Bedingungen der europäischen Gesellschaften anpassen. Zwei Schlüsselfragen bestimmen hier das Problem: die Gleichstellung der Geschlechter und die der Trennung von Geistlichem und Weltlichem. Bezüglich beider Fragen ist es für den Rechtsstaat und für die Konstruktion einer gemeinsamen Zivilisation lebenswichtig, daß die Regeln in aller Klarheit  und Striktheit festgelegt werden - was angesichts der Zögerlichkeiten und Variationen der europäischen Rechtsprechung nicht immer der Fall ist. 


Die historische Herausforderung, die sich dem Islam stellt, ist demnach von blendender Evidenz: Entweder wird eer sich vermittels sich herausbildender modern-westlicher Eliten säkularisieren, um an der gegenwärtigen Weltkultur zu partizipieren, oder er wird in der konservativen Reaktion verdunkeln und, indem er sich einer Anpassung verweigert, letztlich seine eigene Sakralität verlieren. ...


Europa muß auf das Autauchen eines modernen Islam setzen, der zu einem Beispiel für den Islam im allgemeinen in der Welt werden kann. Wir sind am Anfang eines historischen Prozesses, nichts ist im voraus entschieden. Ein Irrtum wäre es, das derzeitige Brodeln des Islam für seine wahre Natur zu nehmen. Angst ist niemals ein guter Ratgeber ....

Identitarismus und Universalismus

Das bedeutet, daß eine Nation sich nicht alleine auf einen Verfassungsvertrag reduzieren läßt; sie ist auch verwurzelt in der Geschichte, die sie annehmen muß; in Gefühlen und Affekten, deren Wurzeln tiefer reichen als die rationalen Entscheidungen der durch eine gemeinsame Erklärung vereinten Bürger. Es geht darum, zu untersuchen, was im Guten wie im Schlechten nationenbildend ist, und das setzt sowohl die ewige Wiederkehr des Erinnerns voraus, als auch das, was Ernest Renan die Fähigkeit des Vergessens nannte, eine conditio sine qua non für die Konstruktion einer Nation bzw. welcher Gemeinschaft auch immer.


... Nirgends macht der Hegelsche Begriff der "Aufhebung" (im Sinne der Abschaffung und zugleich Bewahrung eines Prozesses) mehr Sinn als bei der Bildung einer kollektiven Verbindung. Es ist diese bewahrende Aufhebung der Erinnerung, die Europa braucht, um sich als Zugehörigkeitsgemeinschaft zu konstituieren, und es muß von diesem Angelpunkt aus seine ethnischen Verschiebungen angehen, um zu verhindern, daß sich im kleinen die negative Erfahrung des tyrannischen Identitarismus - in Form von alltäglichem Rassismus, hartnäckiger Fremdenfeindlichkeit, letztlich Angst vor dem Anderen - wiederholt. 


Die Wiederkehr des Identitarismus in Europa muß ernst genommen werden. Man muß ihn als kulturelles Moment verstehen, das im Prozeß der Bildung neuer Zugehörigkeiten unumgänglich ist. ... Weil es die Möglichkeit einer globalen abstrakten Identität, die etwa an die Marktglobalisierung oder an einen elitären Kosmopolitismus  gebunden wäre - also eine Identität, die in keiner spezifischen Geschichte verwurzelt ist [das würde ich in Frage stellen]- nicht gibt, beruft man sich auf die Identitäten des Ursprungs ....

Was heißt heute Universalität? ...Unserem Verständnis nach bedeutet er keinesfalls Auflösung in der globalen, konsumistischen Warenidentität - Kennzeichen der herrschenden Ideologie in der Epoche der Warenglobalisierung. Ebensowenig ist er mit einer Haltung zu verwechseln, die dem Rest der Welt die westliche Identität auferlegen will.


Die einzige Haltung, auf die sich eine Konzeption vernünftiger Mondialität gründen kann, ist diejenige, die sich auf die Menschheit als primäre Zugehörigkeit bezieht und sich auf die Werte der Aufklärung stützt: also auf die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Solidarität. ...


Ist es denn ein Zufall, daß alle auf Ausschließung beruhenden Identitarismen darin überinstimmen, sich dem Mestizentum entgegenzustellen. Sie fürchten es, als handele es sich dabei um die tödliche Auflösung einer spezifischen Identität, während es doch die einzige Art ist, die Universalität dieser Identität auf den Prüfstand der conditio human zu stellen. Sie fürchten es, weil sie letztlich kein Vertrauen in ihre eigene Identität haben. Sie sperren das Individuum in eine panzerhafte Identität des Ursprungs, die einer lebenslangen Gefängnishaft gleichkommt. ...


Eine politische Gesellschaft kann - bei Strafe des Untergangs im Krieg der multiplen Zugehörigkeiten - ohne diese gemeinsamen Werte nicht funktionieren. Wie läßt sich Gemeinschaftliches, Allgemeininteresse, also Universelles zusammen mit dem Diversen machen, herstellen, konstituieren? ... Über die heterogenen, stets partikularistischen Werte hinaus braucht man ebenso Homogenität, den Zusammenhalt der zentralen Werte. Die wahre Herauforderung stellt die Selbstüberschreitung dar, die Öffnung zur gemeinsamen conditio humana - jenseits der Apologien des Rechts auf Differenz, das sich, wie man allzugut weiß, leicht in die Pflicht der Seperation und Rechtetrennung verwandelt. ...


Die moderne Universalität ist mestizischer Humanismus, ist ie Öffnung zur Gemeinschaft als Gattung. ... Nur die Anerkennung der gemeinsamen universellen Werte kann die Eintrittskarte zur Koexistenz in der aufnehmenden Gesellschaft bilden. Das setzt voraus, daß man dieser Gesellschaft keine Normen und Werte auzwingt, die zu ihren eigenen in Gegensatz stehen. Umgekehrt muß die Integration von kulturell abweichenden und neuen Werten, wenn sie denn möglich ist, in der aufnehmenden Gesellschaft einem strengen pädagogischen Prinzip unterworfen sein: der geduldigen Erziehung, um zur Begegnung der Kulturen und zur Brüderlichkeit der Identitäten zu verhelfen. Eine lange, schwierige Arbeit, die niemals enden wird." 

Sicherlich sind diese Reflexionen und Wege komplexer als die Lösungen von terribles simplificateurs, die den gordischen Knoten schon durchschlagen haben. Tretet für Eure belles differences ein - aber stellt sie auf den Prüfstand der universellen conditio humana!

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