Donnerstag, 29. Dezember 2011

Friedrich Kittler, Metamorphosen der Liebe - Liebe, Begehren, Erotik - Gegenkräfte des monotheistischen Konzepts

Dieses Blog-Jahr will ich mit dem Hinweis auf eines der letzten Gespräche des am 18. Oktober verstorbenen Friedrich Kittler abschließen.  Es ist veröffentlicht in Lettre International 95

Friedrich Kittler spricht mit Frank M. Raddatz: Metamorphosen der Liebe - Liebe, Begehren, Erotik - Gegenkräfte des monotheistischen Konzepts

Die Ausführungen Kittlers sind von großer Schönheit. Ich exzerpiere den Schluß:

"Frage: In diesem Entwurf wirkt Aphrodite als die große Gegenspielerin des monotheistischen Konzept?
Kittler: Das ist eine heilige Frage. Ich verstecke mich jetzt hinter einem Zitat. 1239 schreibt Papst Gregor IX., dass in Sizilien aus dem Meer das apokalyptische Untier hervorgekrochen sei, sich in Palermo auf einen Königs- und Kaiserstuhl gesetzt habe und verkündige, die Menschheit sei von drei Betrügern betrogen worden - drei barratori.  Die drei Betrüger trügen die Namen Moses, Jesus und Mohammed. Diese drei Betrüger hätten der Menschheit aufgeschwatzt, ein männlicher Gott sei die einzige Gottheit auf der Welt und habe "aus dem Nichts", ex nihilo, seine creatio, seine "Schöpfung" vollbracht. Aber er, der Kaiser und alle, welche die Natur anschauen, wüßten doch ganz von selbst, dass ohne das commercium zwischen Mann und Frau oder Frau und Mann nicht Schönes und Fruchtbares auf Erden entstehe. 
Weil der Kaiser einfach nur die Wahrheit gesagt hat, beschließt der Papst, diesen Kaiser und Ketzer Friedrich II. von Hohenstaufen zu exkommunizieren. Aus diesen drei Betrügern ist bei Lessing die "Ringparabel" geworden. Das findet die "Fabel von den drei Ringen" von Boccacio Eingang wie auch ein ziemlich wüster Text aus dem 18. Jahrhundert, der "Les trois Menteurs" heißt und von dem Lessing auf jeden Fall wußte. Ich denke hingegen, dass Kaiser Friedrich II. die Wahrheit gesprochen und dass die Schönheit des Hochmittelalters und der staufischen Kunst auf dieses Zulassen der Beziehung zwischen Frauen und Männern zurückgeht. 


Frage: Die Liebe und das Christentum, das geht also nicht zusammen?
Kittler: Über Jahrhunderte haben nur Mönche gedichtet, bis endlich ein paar Nonnen, Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg, das Wort ergriffen und der Minnenmystik zumindest das Wort geredet haben. Dies wäre die einzige Einschränkung die man innerhalb des christlichen Horizonts zugunsten der Liebe machen könnte. In der Mystik wird von Nonnen und Mönchen manchmal eine Form der Liebe erreicht, die über die blose caritas oder agape hinausgeht als "Brautmystik" und "Brautliebe" im Sinne des Salomonischen Hoheliedes, das in der ganzen Bibel die einzige Liebesdichtung ist, die sich finden läßt. Wenn der einzige Gott seine Schöpfung aus dem Nichts hervorgehen läßt und nicht aus dem Zusammenwirken der Liebenden, dann handelt es sich um einen gezielten Ausschluß der weiblichen Gottheit und ist mit dem Prinzip der Liebe, wie Sappho, Lukrez, Ovid oder Bachmann und viele andere es beschreiben, nicht vereinbar. "

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Einer der Lieblingssongs Friedrich Kittlers war

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