Dienstag, 21. September 2010

Matthias Matusseks wundersame Wandlung

 Diese Post nimmt Bezug auf
1. Erstfassung: Matthias Matussek@19:25, 11. September, Merkwürdiger Abend mit Sarrazin (nur noch im webcache), inzwischen nicht mehr im webcache, Screenshots in Post Matthias Matussek, Urszene mit Sarrazin
2. Zweitfassung: Matthias Matussek@19:25, 19. September, Neu: Publikumsbeschimpfung,
3. offizielle Fassung im SPIEGEL, der heilige Text: Debattenbeitrag von Matthias Matussek, Sarrazin-Debatte, Ein Freak, ein Störenfried, ein Jahrmarktsereignis, 20. September 2010, 08:47 Uhr

Matthias Matussek habe ich bisher als sportiven und schlagfertigen Feuilletonisten (mit einer zuweilen schönen männlichen Empfindsamkeit; seine Hommage an Clint Eastwood fand ich großartig) und lustigen Goethe-Blogger, als, auch wenn ich das Confiteor nicht mehr mit ihm mitbeten kann, wackeren und unerschrockenen Katholiken, der beherzt und frei von der Leber das Evangelium, die frohe Botschaft, verkündet,  und als Autoren des munteren patriotischen Buches "Wir Deutschen. Warum die anderen uns gern haben können" geschätzt. Matthias Matussek war bis zur Sarrazin Krise, in der er berserkerhaft kämpft, nicht auf dem Radarschirm "Von den Einzigwahren Freunden Israels".

Warum also jetzt ein "Scheinwerfer" auf Matthias Matussek auf diesem Blog? Ich habe das Sarrazin Phänomen in mehreren Posts im Hinblick auf die Einzigwahren Zeugen Israels ausgeleuchtet. Ich habe auch schon mehrfach eine Hypothese über "Sarrazianer" (andere sagen "Sarrazenen" oder, so Matussek in Fassung 1 "Sarrazion-Ziustiummungsbürger", also auch mit jüdischem Gen) gegeben. Hier will ich Matthias Matussek als Augen- und Zeitzeugen (das ist nicht dasselbe, werden wir lernen) aufrufen und in den Zeugenstand bitten. Außerdem schätze ich mich glücklich, dass ich Beobachter der Produktion eines Palimpsestes in statu nascendi eines prominenten Publizisten sein darf.

Zwischen der heiligen Fassung im SPIEGEL und der Zweitfassung auf Matusseks Blog bestehen nur geringfügige, zu vernachlässigende Unterschiede, die sich der SPIEGEL Schmiede verdanken, die Texte noch schmissiger macht. Beispiel:

Zweitfassung: "Nachdem  Tilo Sarrazin "erfolgreich geächtet" ist, nehmen die Kommentatoren seine Leser aufs Korn. Spekulationen über eine rechte Sammlungsbewegung schießen ins Kraut. Das Profil der potentiellen Miglieder: männlich, allein, frauenhassend".

Heilige Fassung im SPIEGEL: "Kaum ist Thilo Sarrazin "erfolgreich geächtet", nehmen Kommentatoren in einer großangelegten Publikumsbeschimpfung seine Leser aufs Korn. ..." Das ist natürlich ein anderer, und zwar der Sound, den wir lieben.

Die Metamorphose oder, dem Katholiken Matussek wahrscheinlich vertrauter, das Sakrament der Wandlung hat sich zwischen der Erst- und Zweitfassung vollzogen.  In die Hölle gefahren, von Matthias Matussek gelöscht, ist der Leib seiner Erstfassung v. 11. September (die Toten leben jedoch immer noch in den webcaches, wir können sie - Google sei dank! - restaurieren), wiederauferstanden, hallelujah!, ist der Leib seiner Zweitfassung, die er am 19. September auf seinen Blog veröffentlicht hat.

Ich bitte die noch Ernsthaften mit dem nötigen Zeitbudget diese beiden Fassungen zu lesen (es werden nicht viele sein; jedoch ist es für mich auch in der Epoche des Ratings per Clickrates schnurzegal, wie viele es sind).  An dieser Stelle ist für mich lediglich relevant, wie Matussek das Publikum in der Urania beschreibt:

Erstfassung unmittelbar nach dem Ereignis am 11. September (im webcache): "Und leider wurde das Publikum zunehmend unangenehm. Der (längst eingebürgerte) iranische, also: deutsche, Regisseur wurde rüde von Zwischenrufern unterbrochen... Der Wilmersdorfer und Schöneberger Sarrazion [sic!]- Ziustiumungs[sic!]-Bürger machte irgendwie unangenehm mobil, und all meine hübsch hingelegten Verweise auf den melancholischen Deutschland-Abschied des Bildungsbürger Sarrazin - mein Gott, er war der einzige, der bei Plasberg Goethes Spätgedicht "Wanderers Nachtlied" zitieren konnte - verpufften. Ebenso die Diskussion über Leitkultur, über die Überwindung des Deutschland-Traumas der Deutschen, über einen schönen, weltoffenen Patrotismus, wie ich ihn in meinem Deutschland-Buch herbeibeschwor."

Hier zeigt sich natürlich auch das schöngeistige Elend, wenn man nicht radikal zu den elenden Tatsachen vordringen will, nämlich, wie Broder es formuliert, dass "die Europäer zu faul zu ficken sind", womit er vulgo meint, dass sie sich nicht ausreichend reproduzieren; der "melancholische Deutschland-Abschied des Bildungsbürger Sarrazin" versucht noch nicht einmal, vanitas vanitatum vanitas, die Hunde zum Jagen zu tragen. Ich bin, wie bereits dargestellt, sehr dafür, dass "Wanderers Nachtlied" auch in 50 oder 500 Jahren funkelt und von ca. 5% der Bevölkerung zitiert werden kann, aber die Fertilitätsbereitschaft der deutschen Bildungsbürger mit überdurchschnittlichem Sarrazin-IQ wird es nicht signifikant erhöhen (hier scheint noch nicht mal Tom Jones, Benedikt XVI., Udo Jürgens oder Kuschelrock zu helfen).

Dieser Eindruck des Publikums in der Urania wird auch durch Matthias Matusseks SPIEGEL-Kollegen Jan Fleischhauer bezeugt (SPIEGEL, Nr. 38, 20.9.10. S. 183):

"Es ist mit Rücksicht auf die Vorgaben der politischen Korrektheit aus der Mode gekommen, vom Mob zu reden. Aber es gibt kein besseres Wort für das Publikum, das sich am Freitag vorvergangener Woche in der Urania einfand. Es war ein adrett zurechtgemachter, nach Rasierwasser und Eau de Toilette riechende Mob, ein Angestelltenpöbel, den es kaum auf den Stühlen hielt, sobald die Rede auf "die Politik", "die Medien" und "die Ausländer" kam, und der zischend, johlend und klatschend seiner Aggression freien Lauf ließ."

Am 19. September, 8 Tage nach seiner Erstfassung am 11. September, die ohne Todesanzeige beerdigt wurde, veröffentlicht Matthias Matussek seine Heilige Fassung im SPIEGEL-Online. Hier heisst es jetzt:

"War das nun der "Mob", der "Angestelltenpöbel", den mein Kollege Jan Fleischhauer, der im Publikum saß, anderntags auszumachen meinte? Ich habe es anders erlebt. Sicher, manche Zwischenrufer waren auch mir so unangenehm, dass ich irgendwann sagte: "Wissen Sie, wenn ich mir das so anhöre, kann ich verstehen, dass Herr Samadi möglicherweise Angst bekommt." Doch das war ein Konzessionssatz für den Mann, den ich eingeladen hatte. In Wahrheit fand ich die paar Zwischenrufer überhaupt nicht demokratiebedrohend....
Es blieb gesittet in der Urania. Unten im Saal: Absolut nicht jene verbiesterten christlichen Kreuzzügler, die sich die "Zeit" herbeiphantasiert. Stattdessen jüngere Menschen, Akademiker, viele Pärchen darunter, Besucher, die sicher nicht zum ersten Mal zu einer Buchlesung erschienen waren.
Ein Publikum, das empfänglich zu sein schien für den bitteren und melancholischen Abschiedston Sarrazins, den er selber "Deutschland im Abendlicht" nannte."

Das Essen beim Chinesen, Fassung 1: "Anschließend ging ich mit Thomas Brussig und Frau zum Chinesen essen. Ich fühlte mich schuldig und schlecht und fühlte mit dem Regisseur und Kollegen Neffe und bestellte Ente mit Knochen .... Eigentlich ist die ganze Menschheit schuldig und schlecht. Das Restaurant heisst "Good friends". Fortsetzung folgt."

Das Essen beim Chinesen, Heilige Fassung: "Anschließend saß ich mit Thomas Brussig und seiner Frau beim Chinesen in der Kantstraße und fühlte mich schlecht wegen Ali Samadi Ahadi und bestellte Ente mit Knochen. Das Restaurant heisst "Good friends". Ich sinnierte über der Frage, ob ich fremdenfeindlich, und wenn ja, ob es vielleicht genetisch ist bei mir... Ich glaube nicht, dass wir frauenhassender, nächstenliebeloser Pöbel und Angestelltenmob sind. Aber wer weiß?" - Hier haben wir ein schönes Beispiel dafür, dass der Zeitraum gekrümmt ist; Matthias Matussek setzt sich bereits beim Chinesen mit Artikeln auseinander, die erst später, bei Jan Fleischhauer z.B. erst am 20.9., veröffentlicht wurden.

8 Tage liegen zwischen Matthias Matusseks Fassungen. In dieser Woche kam es zu einer Verwandlung,  8 Tage hat es in Matthias Matussek gegärt. Es kann ja durchaus sein, dass ein mehrfach überlegter und durchdachter Eindruck "wahrer" ist als der frische, unmittelbare, der durch Emotionen und Hormone getrübt sein kann. Auskunft kann uns letztlich nur Matthias Matussek selbst geben. Was ist passiert, dass 1. die Beurteilung sich ins schiere Gegenteil gewandelt hat, 2. Matussek versucht hat, seine Ursprungsfassung zu tilgen, ungeschehen zu machen? Die Radikalität von Matusseks Wandlung ist nur vergleichbar der eines Saulus in einen Paulus.

Ceterum censeo: Das deutsche  "Bildungsbürgertum" tanzt den Todestanz, heult und mährt über die Fertilität der Muselmanen anstatt sich mit der eigenen zu beschäftigen - und Henryk M. Broder ist ihr Prophet. Und ich frage, was all diese Elementarteilchen, Pärchen (Matthias Matussek sieht in der Urania bezeichnenderweise "Pärchen", keine Paare) oder Singles, Schwule oder Heten, die das harte Glück einer Elternschaft nicht auf sich nehmen wollen, sich für keine anderen Kinder interessieren als für sich selbst, die sie nach nach dem Stress eines Tages des lebenslangen Lernens chillen und beruhigen müssen, mit ihrer überlegenen Intelligenz anfangen? Diese Endmoränen ihrer Art, die so empfänglich sind für den bitteren und melancholischen Abschiedston Sarrazins, "Deutschland im Abendlicht". Baden die in ihrem Selbstmitleid oder sind die einfach in der belle indifference ihrer Trance? Eloi, die zwischendurch in dystopischen Träumen zucken.

10 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Chapeau, gut aufgepasst, gute Recherche. Hier könnte sich der Größte Recherchierjournalist aller Zeiten ein Scheibe abschneiden.

Katholisch hat gesagt…

Da sind einige gute Punkte, die Sie getroffen haben. Aber auch Sie können es nicht unterlassen, mal so beiläufig den Katholizismus und den Papst lächerlich zu machen. Das gehört wohl zum guten Ton.

Ich bin ein Berliner hat gesagt…

Sarrazion-Zuistiummungs-Bürger! Grandios. Sie sind doch Psychologe? Freudscher Versprecher oder was?

Oscar Mercator hat gesagt…

@Katholisch
Stimmt, Sie haben recht. Beiläufig. Das ist mir rausgefluscht, den Papst in diese Reihe zu stellen. Das ist respektlos.

Oscar Mercator hat gesagt…

@Berliner
Ist plausibel, ein Freudscher Verschreiber. Interessanter erscheint mir jedoch, dass Matthias Matussek die Sache tilgen und ungeschehen machen wollte.

Ruth hat gesagt…

was haben Sie für eine Tonart drauf? Endmoränen ihrer Art? Baden die in ihrem Mitleid? Sie sind, wenn Sie so schiessen und pauschalisieren ihrem Lieblingsfeind ähnlicher als Sie denken. Beide habt ihr ein Problem mit dem f... der Europäer. Es gibt viele Frauen und Männer, die kein Kind bekommen können, es gibt Schwule und Lesben, manche würden sogar Kinder adoptieren, wenn dies möglich wäre, und es gibt wirklich viele Handicaps in diesem System, und dann ist es manchmal zu spät. Traurig, aber Sie sollten sich darüber nicht lustig machen. Also polemisieren Sie nicht gegen eine ganze Generation.

Oscar Mercator hat gesagt…

@Ruth
Ich weiss natürlich, dass es in dieser Frage sehr viel Unglück gibt. Ich weiss auch, dass man sich aus guten Gründen gegen ein Kind entscheiden kann. Falls ich hier nicht genügend differenziert habe, will ich mich entschuldigen. - Andererseits neige ich schon zum apokalyptischen Gesang. Was mich hier aufgebracht hat, war Matthias Matusseks reichlich kitschige Apologie de Sarrazin-Publikums, das "empfänglich zu sein schien für den bitteren und melancholischen Abschiedston Sarrazins". "Deutschland im Abendlicht", das ist Lust am Untergang, dann sollten wir in der noch verbleibenden Zeit unserer Oma ihr klein Häuschen versaufen.

Anonym hat gesagt…

da haben sie aber einen schönen "scheinwerfer" auf matussek gerichtet.
großartiger artikel! vielleicht spring ja mal ein job beim spiegel oder der zeit für sie raus???

mfg

JR

Oscar Mercator hat gesagt…

Empfehlen Sie mich den Damen und Herren. Zahlen die ordentlich? Wenn H.M.B. auf SPON Zeilen schinden muss, kanns doch nicht soweit her sein?

Neil Benham hat gesagt…

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